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Interview zum 60. Geburtstag


Sendedatum: 25. März 1964
Rundfunkanstalt: Südwestfunk
Moderator: Dr. Huber
Texterstellung nach den Tonaufnahmen: Benno Morsey

Im Zuge meiner CD-Edition mit Hermann Schroeder als Komponist und Dirigent stieß ich auf private Tonbandmitschnitte mit zwei Interviews, die der Südwestfunk im Jahre 1964 und 1974 aus Anlass des 60. und 70. Geburtstages mit Hermann Schroeder gemacht hat. Sie stellen wertvolle Dokumente dar, weil sie nicht nur die Stimme des Komponisten, sondern auch viele interessante und grundsätzliche Aussagen zu seinem Musikverständnis bewahren.
Die vorliegende Übertragung der Tondokumente in Textform entspricht bis auf geringe Abweichungen den Originalen. Der besseren Lesbarkeit und vor allem der besseren inhaltlichen Verständlichkeit halber wurden die angedeuteten Mängel behutsam eliminiert bzw. korrigiert. Wenn dennoch an einigen Stellen Unklarheiten verbleiben, so liegt das an den Formulierungen der Interviewpartner selbst - immerhin ist das bei der komplexen Problematik verständlich. Hier etwas zu verändern, hätte aber einen größeren Eingriff bei der Textübertragung bedeutet. (Benno Morsey)


Herr Prof. Schroeder, wir feiern morgen Ihren 60. Geburtstag und bringen aus diesem Anlaß eine größere Sendung von Ihnen. Wie wir aus Ihrem Werkverzeichnis ersehen können, haben Sie schon in allen Gattungen einiges komponiert, und wir dürfen annehmen, daß Sie sich über das und wie Sie es komponiert haben, schon einige Gedanken gemacht haben, z.B. wie stehen Sie denn zu dem Moment der Melodie?

Herr Dr. Huber, das ist recht schön und nett, daß Sie einem Komponisten direkt an die Nieren gehen und ihn gleich von der Melodik, von der Harmonik und von der Rhythmik her packen. Dann wird wohl, das kann man annehmen, auch einiges klar. Und wenn man schließlich einige Jahrzehnte hinter sich hat, sollte man annehmen, daß man sich auch Gedanken gemacht hat und nicht nur Gefühle geäußert hat. Die Melodik ist bestimmt der Ausgangspunkt des Komponierens. Die Singstimme, das Melos, liegt dem Menschen am nächsten, und so wie man am Anfang den vokalen Kontrapunkt übt und später die Erweiterung zu der instrumentalen Seite macht, so soll auch das Vokale im Kern und im Inneren eigentlich nie aus einer Musik herausgehen. Wenn die Musik das Vokale ganz verläßt, also wenn meinetwegen Dinge rein punktuell ausprobiert werden, dann hört für mich persönlich die Musik eigentlich auf.


Herr Prof. Schroeder, Sie kennen sicherlich den Ausspruch von Strawinsky, der sagt, seine Musik kann keine Gefühle ausdrücken. Sie sind also auf alle Fälle der Meinung, daß die Musik doch Gefühle ausdrücken kann?

Ja, der Meinung bin ich, daß der Künstler ein Gefühl hat, das er im anderen auch erzeugen will, daß er bei einem anderen ein Gefühl erwecken will.


Wie würden Sie dann diese Grundgefühle der Symphonie in ihrem Ablauf zuordnen?

Zum Beispiel wird der 1. Satz aufgrund seines Allegro-Charakters und aufgrund seiner Durchführungstechnik dramatisch sein. Er wirkt umso besser, wenn er von einem lyrischen 2. Satz abgelöst wird. Dieser wieder wird allein in der Lyrik so stark sein, daß er von dem Tänzerischen des Scherzos wiederum in seiner Art profitiert. Und der letzte Ausklang des spielerischen Rondos etwa ist das, was dann den ganzen Zyklus einer Symphonie als Idealzyklus erscheinen läßt. Und daher kann man nicht sagen, daß da keine Gefühle ausgedrückt werden.


Bleiben wir noch einen Moment bei der Symphonie. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das doch das Formschema der klassischen Symphonie?

Ja, ja.


Sie sprechen von einem spritzigen Kehraus, Sie sprechen von einem dramatischen 1. Satz.

Ja.


Haben Sie in Ihrer Symphonie auch die Exposition in Form von zwei gegensätzlichen Themen aufgestellt?

Ja, da ist es das Gleiche, obwohl man natürlich auch andere symphonische Sätze zum Zyklus verbinden kann. Das ist klar. Es muß nicht immer das Schema sein, aber das Schema zeigt doch an, daß darin etwas Grundsätzliches liegt und daß alle anderen Formen, die das Schema abwandeln, auch sehr schön sein können, aber eben eine gewisse Abwandlung dieses Grundschemas bedeuten.


Sie bleiben also bei der Form?

Ja.


Herr Prof. Schroeder, wir kennen in der Musikgeschichte den immerwährenden Streit zwischen den beiden Anschauungen, nämlich daß einerseits die Melodie das Wichtigste sei, andererseits aber die Harmonie. Wo befinden Sie sich zwischen diesen beiden Polen?

Man muß sagen, daß nur die klassischen Zeiten das Glück haben, zwischen den einzelnen Elementen Melodik, Harmonik und Rhythmik einen Ausgleich zu finden. Alle anderen Zeiten müssen sich wohl oder übel damit abfinden, zwischen diesen Dingen etwas zu suchen, und bei diesem Suchen und bei diesen Zeiten gerät notwenigerweise irgendein Element ins Hintertreffen, so wie es heute eben die Harmonik ist. Es ist heute das polyphone Element ein Ergebnis eben der melodischen Führung, der kontrapunktischen Führung, und die Harmonik steht etwas im Hintergrund. Damit ist nicht gesagt, daß man nicht harmonisch sein könnte, aber der einzelne vertikale Klang ist heute sehr stark durch die Dissonanz differenziert, so daß die Harmonik sich eigentlich nur noch in den harmonischen Zentren zeigt. Man hat ein gewisses harmonisches Zentrum, man schreibt tonal, aber in erweiterter Tonalität. Man schreibt nicht nur in 7 Tönen, sondern bewegt sich im Zwölftonraum mit einem tonalen Zentrum.


Sie sagen "Zwölftonraum". Beinhalten Sie mit diesem Zwölftonraum auch die Anwendung der Zwölftontechnik?

Keineswegs. Damit habe ich persönlich nichts zu tun und keine Verbindung. Man kann im Zwölftonraum auch schreiben, indem man tonal bleibt, aber nicht im alten Sinne in Dur- und Moll-Tonalität, sondern sämtliche Möglichkeiten tonaler Anwendungen über einen Ton – nehmen wir an phrygisch, dorisch, pentatonisch, lydisch, mixolydisch, auch einmal Dur und Moll – hineinbringt, so daß also der gesamte Raum da ist, aber gebunden an einen zentralen Ton, wie wir es aus der Hindemithschen Lehre kennen. Das wäre so der Sinn der heutigen Harmonik, die noch an das Alte anknüpft, an die Tradition anknüpft, aber doch etwas Neues hat.


Und würden Sie den gewissen Neubeginn schon bei Richard Wagner ansetzen, bei "Tristan und Isolde"?

Kann man, obwohl das gewissermaßen den Auflösungsprozess der Diatonik hatte – es brauchte hinterher wiederum die Möglichkeit, die Tonalität neu zu fassen. Und das ist nach meiner Ansicht nach dem ersten Weltkrieg doch den Leuten wie Hindemith und anderen gelungen: zu versuchen, wohl tonal zu schreiben, aber trotzdem nicht im alten Sinne, sondern in einem neuen, der wohl noch entwicklungsfähig ist.


Herr Prof. Schroeder, wir sprachen über die Melodie, über die Harmonie, und nun haben wir noch den 3. Punkt, der mit der Harmonie und mit der Melodie unlösbar verbunden ist, nämlich den Rhythmus.

Die Rhythmik ist heute das große Feld der Experimente und es ist vielleicht kein Zufall, daß unsere Zeit das Rhythmische so sehr liebt. Was den Hörer manchmal etwas merkwürdig berührt ist, daß die Rhythmik so frei ist, daß er nicht mehr recht in dem überkommenen Schema hört, das wir von der Klassik und Romantik her haben. Die Rhythmik ist heute "schwebend" geworden. Das sieht im Bild sehr viel nach Taktwechsel aus, ist aber im Grunde kein Taktwechsel, sondern eigentlich ein freier Rhythmus, der nicht mehr an das Taktschema eines 4/4 oder 3/4 gebunden ist. Und dadurch entstehen die freien Bildungen der rhythmischen Werte, die eine gewisse Unruhe hineinbringen. Und das kann ja auch wiederum ein Ausdruck unserer Zeit sein, denn sie ist ja bei Gott nicht ruhig und abgeklärt.
Ja, nun könnte ich sagen, daß ich in der Verbindung des kompositorischen Schaffens mit meiner musikerzieherischen Tätigkeit doch eine sehr glückliche Art finde. Im Schaffen selbst möchte ich sagen, daß man einen Ausgleich zwischen der freien Komposition, also sagen wir mal dem Quartett, der Kammermusik, Orchestermusik, die ohne Rücksicht auf das technische Können der Ausführenden geschrieben wird, und der sogenannten "Gebrauchsmusik", also Musik für die Kirche, für die Schulen, für die Chöre, für die Hausmusik, finden soll. Und daß hier immer die gleiche Klage kommt der Schwierigkeit des neuen Satzes, bzw. die Forderung an die Komponisten, leicht zu schreiben, das hat etwas für sich. Auch das halte ich für eine Aufgabe des heutigen Komponisten, sich auch in gegebenen Grenzen des Schwierigkeitsgrades so ausdrücken zu können, daß er sich nicht stilistisch etwas vergeben muß.


Herr Prof. Schroeder, wir haben nun öfters Gelegenheit gehabt, Sie auch als Dirigent kennen zu lernen und zu hören. Nun ist es ja ein Interpretationsproblem, wenn ein Komponist sich selbst dirigiert. Was hat Sie eigentlich dazu veranlaßt zu dirigieren?

Es ist wohl klar, daß es jedem Komponisten Freude macht, sein eigenes Werk zu dirigieren, vorausgesetzt, daß er die handwerkliche Eignung eines Dirigenten hat. Aber ich kann mir auch vorstellen, daß ein fremder Dirigent ein Werk unter Umständen besser dirigiert als der Komponist, und zwar deswegen, weil er einen gewissen objektiven Abstand davon hat. Und der Komponist, der aus der wohlverstandenen Freude des ersten Hörens dieses Werkes dirigiert, hört dann doch nicht so genau in den Einzelheiten wie ein Fremder, der - wie gesagt - diesen Abstand hat.


Würden Sie mit mir einig gehen, wenn wir sagen, daß der Komponist beim Dirigieren seines eigenen Werkes den Werdevorgang des Werkes, wie es entstanden ist, wieder in der Rückschau erlebt, also innerlich erlebt, und vielleicht so stark erlebt, daß er – wie das auch bei manchen Dirigenten der Fall ist – gar nicht nach außen hin hört, gar nicht die objektive Kontrolle über das hat, was interpretiert wird?

So ist es wohl, weil die eigene Freude und das eigene Hören ihn unfähig macht, den Abstand zu wahren und exakt hineinzuhören, weil das eigene Erlebnis vielleicht zu stark ist. Und dazu muß man auch sagen, daß die Berufsdirigenten im allgemeinen ja auch die bessere Technik, die größere manuelle Technik haben, mit einem Orchester umzugehen, weil sie dies ständig tun und weil es bei einem Komponisten doch eine gewisse Seltenheit ist.


Gewiß. Andererseits kriegt aber das Dirigat eines Komponisten doch einen besonders erlebnisreichen Akzent, weil er eben aus dem Urempfinden, das der Komposition zugrunde liegt, schöpfen kann, während der Interpret, der fremde Nachschöpfer sich erst in den Komponisten hineinversetzen muß, um ihn zu erfühlen, damit er ihn interpretieren kann.

Das ist wiederum richtig. Deswegen wäre es ja schön, wenn man von den zeitgenössischen Komponisten gelegentlich verschiedene Auffassungen hat, das, was er selbst dirigiert hat und das, was ein anderer gesehen hat.


Wir haben da noch einen wesentlichen Ausspruch von Strawinsky, wenn er z.B. sagt, in seiner Musik gibt es keine Ritardandi und keine Accelerandi. Für ihn bleibt die ontologische Zeit, also die rein physikalische Zeit, gleich der erlebnismäßigen Zeit. Gehen Sie auch so weit zu sagen, daß sich beide Zeiten unbedingt überlagern müssen?

Nein, ich bin anderer Ansicht. Ich bin der Ansicht, daß das seelische Element auf die Zeit eine Einwirkung hat und daß sich die Gestaltung ja doch auch ausdrücken muß. Daß man also nicht vom Metronom her lebt, sondern von dem Rhythmus, der sich gewissermaßen durch die Seele des Menschen äußert.


Es gibt einen wunderbaren Ausspruch über die Verwendung des Schlagzeuges. Ein bekannter englischer Dirigent wurde eines Tages gefragt, was er als das größte Übel des 20. Jahrhunderts betrachtet. Daraufhin sagte er, "daß das Schlagzeug zu einem Soloinstrument geworden ist."

Ich sagte ja: Daß der Rhythmus heute groß geschrieben wird, ist eine gewisse Einseitigkeit, die an sich der Musik nicht ganz gut tut, denn das Rhythmische ist im musikalischen Erlebnis vielleicht nur in der Verbindung mit dem anderen etwas, was schließlich unsere europäische Kultur ausmacht. Es gibt musikalische Kulturen, die nur den Rhythmus haben. Dies ist aber vielleicht nicht so viel, wenn wir uns einbilden, daß die europäische Musik eben deswegen so groß ist, weil sie in der Verbindung von Melodik, Harmonik und Rhythmik besteht.


Nach Ihrer Anschauung dominiert also das melodische Moment?

Es soll dominieren und soll die anderen durchdringen. Das ist das, was ich eigentlich am schönsten empfinde, denn schließlich: der Mensch singt. Und vom Menschen, von der Mitte des Menschen, von seinem Singen, geht eigentlich alles aus. Und wenn man von seiner Mitte so weit weg geht, daß er - wie heute - nicht mehr beteiligt ist, dann bin ich bei einem Experiment, was wohl sein muß, was aber nicht unbedingt eine ausgesprochene musikalische Urentwicklung bringen könnte.


Sie haben nun selbst in Ihrer "Sinfonia piccola" das Schlagzeug sehr stark verwendet. Tun Sie das im Sinne eines Experimentes oder tun Sie das im Sinne einer organischen Eingliederung des Rhythmus in die Melodik und Harmonik?

Nein, ich tue es da als spielerisches Element. Die Schlagzeuger fangen an, eine Bewegung zu bringen, ohne Töne. Und diese Bewegung wird so stark, daß die Töne sich mit ihr verbinden - und plötzlich ist das Stück am Laufen. Das ist eigentlich nur ein kleiner Witz – sagen wir mal – oder eine nette Sache, nur mit rhythmischen Dingen anzufangen und dann plötzlich in die Musik hineinzulaufen.


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